"Wir können 12 Milliarden Menschen ernähren"

Jean Ziegler war von 2000 bis 2008 der erste Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) für das Recht auf Nahrung. Bis heute kämpft der 78-jährige emeritierte Soziologieprofessor für eine Welt ohne Hunger – unter anderem im Beratungsausschuss des UN-Menschenrechtsrats, dessen stellvertretender Vorsitzender er ist.

Sie sind bekannt für Ihre starke Wortwahl. In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von der »Massenvernichtung in der Dritten Welt« und prangern an: »Wir lassen sie verhungern.« Ist das nicht übertrieben?

Ziegler: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, mehr als eine Milliarde Menschen sind permanent schwerstens unterernährt. Dabei könnten die globalen Erträge der Landwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren – fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.

Wer sind die Täter?

85 Prozent der weltweit gehandelten Nahrungsmittel werden von zehn transkontinentalen Konzernen kontrolliert. Diese Konzerne entscheiden täglich über ihre Preispolitik, wer isst und wer stirbt. Dazu kommt eine Preisexplosion, die einfach mörderisch ist: Wenn die Preise exponentiell steigen, dann sterben die Kinder. Dabei könnte etwa die Spekulation mit Nahrungsmitteln morgen verboten werden. Alles, was es braucht, ist ein Aufstand des Gewissens. Bauern in  Entwicklungsländern haben es immer schwerer, Land zu finden. Allein in Afrika sind Bauern im vergangenen Jahr 41 Millionen Hektar geraubt worden. Als ich kürzlich einen Vortrag in Norwegen gehalten habe, meldete sich jemand mit der Frage: Wie kommt es, dass hier im Supermarkt Kartoffeln aus Saudi-Arabien verkauft werden? Ich habe am nächsten Tag nachgesehen, die gab es wirklich – dabei wächst in der Wüste keine einzige Kartoffel. Des Rätsels Lösung: Die Saudi Arabian Development Company hat im Süden Äthiopiens – übrigens mit Geld der Europäischen Investitionsbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank – 550 000 Hektar Land gepachtet. Die vorher dort lebenden Bauern aus dem Volk der Nuer wurden verjagt. Seitdem produzieren dort Wanderarbeiter aus Sri Lanka Rosen, Kartoffeln und Gemüse. Die Erträge werden dorthin exportiert, wo die Kaufkraft ist: nach Norwegen etwa.

Aber die Produktivität afrikanischer Bauern ist tatsächlich gering.

Das stimmt. In der Sahelzone etwa bringt ein Hektar Land unter normalen Bedingungen 600 bis 700 Kilogramm Getreide als Ertrag. In Baden-Württemberg sind es auf der gleichen Fläche 10 000 Kilogramm. Nicht, weil der deutsche Bauer so viel arbeitsamer ist als der afrikanische, sondern, weil der Sahelbauer keine künstliche Bewässerung hat, keine selektierten Samen, wenig Dünger und kaum Zugtiere – Traktoren schon mal gar nicht. Für Investitionen fehlt das Geld, auch dem Staat, der von seinen Auslandsschulden erdrückt wird. Nur 3,8 Prozent des schwarzafrikanischen Ackerbodens wird künstlich bewässert. Der Rest ist Regenlandwirtschaft wie vor 3000 Jahren. Die Antwort auf die Not der Bauern darf nicht Enteignung sein, sondern Entschuldung.

Jean Zieglers Rezept für Afrikas Kleinbauern: Keine Enteignung, sondern Entschuldung.

 

Welche Rolle spielen Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe im Kampf gegen Hunger?

Die Welthungerhilfe hat ganz wichtige Funktionen. Erstens: die humanitäre Soforthilfe. Das Welternährungsprogramm das Hungernden in Krisensituationen hilft, hatte 2008 noch ein Budget von sechs Milliarden US-Dollar. Heute sind es weniger als die Hälfte – dabei kosten Hilfsgüter viel mehr als damals. Da sind zivilgesellschaftliche Gruppen überlebenswichtig, und Deutschland ist der europäische Staat mit dem höchsten Spendenaufkommen. Man muss sich immer vor Augen halten: Jeder Euro, der gegeben wird, garantiert einem Kind 24 Stunden das Überleben.

Sie gestehen der Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle zu.

Natürlich. Organisationen wie die Welthungerhilfe haben die ganz wichtige Aufgabe, die Zusammenhänge, die Kausalitäten aufzuzeigen, die zu Hunger führen. Und ich bin davon überzeugt, dass die Zivilgesellschaft Dinge bewegen kann, die Regierungen nicht schaffen. Der einzige Motor der Zivilgesellschaft ist der moralische Imperativ. Immanuel Kant schrieb: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.«

Sie setzen sich im UN-Menschenrechtsrat derzeit für eine Konvention ein, die Kleinbauern schützen soll. 

Die Hälfte der Menschen auf der Welt sind Bauern, Pächter, Fischer, Wanderarbeiter oder Hirten. Die Konvention, die vom weltweiten Kleinbauernnetzwerk Via Campesina entworfen wurde, soll ihre Rechte schützen, etwa bei Landraub. Die Idee einer Konvention an sich ist bereits vom Menschenrechtsrat akzeptiert, derzeit arbeitet eine Arbeitsgruppe von Staaten die Details aus. Wir fordern zwei Dinge: Erstens sollen sich Staaten vor dem Menschenrechtsrat verantworten müssen, wenn einem bei ihnen beheimatetem Konzern Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.

Zweitens sollen Betroffene Zugang zu Gerichten in den Ländern bekommen, in denen solche Konzerne sitzen. Denn wenn eine Kleinbauernfamilie irgendwo in Afrika von ihrem Land verjagt wird, steht ihr derzeit im Regelfall kein effektiver Rechtsweg offen. Die Europäische Union berät derzeit über ihre künftige Agrarpolitik.

Welche Bedeutung hat diese Agrarpolitik für den Hunger in der Welt?

Ein ganz entscheidender Punkt ist für mich das Verbot von Exportsubventionen: Es darf kein Dumping mehr geben. Die OECD-Staaten haben im letzten Jahr 359 Milliarden US-Dollar für Produktions-und Exportsubventionen an ihre Bauern ausgegeben – daher die Überproduktion. Um die Preise trotzdem hochzuhalten, werden die Überschüsse auf den afrikanischen Märkten entsorgt. Da kriegen sie Gemüse, Früchte, Geflügel zur Hälfte oder einem Drittel des Preises gleichwertiger einheimischer Produkte. Die einheimischen Bauern können sich noch so abrackern, sie haben nicht die geringste Chance auf ein Existenzminimum. Eine aktuelle UNEP-Studie besagt, dass die Hälfte aller Nahrungsmittel schlicht im Müll landet.

Ein großer Teil der Nahrung geht gerade in Entwicklungsländern durch schlechte Lagerhaltung verloren, da muss investiert werden. Was kann der Einzelne gegen den Hunger in der Welt tun?

Man muss auf drei Ebenen tätig werden: Erstens rettet die humanitäre Soforthilfe Leben. Wer kann, soll spenden. Ein Euro, der einem äthiopischen Kind erlaubt, 24 Stunden länger zu leben, ist gut. Zweitens müssen wir auch unsere Essgewohnheiten ändern und nur das kaufen, was man auch wirklich verzehrt. Weniger Fleisch essen, denn ein Viertel der weltweiten Getreideernte geht für die Ernährung von Schlachtvieh drauf. Saisonal essen: Man sollte nur kaufen, was aus der Region stammt, in der man lebt. Keine gentechnisch veränderte Nahrung kaufen. Und drittens gibt es keine Ohnmacht in der Demokratie. Deutschland ist die lebendigste Demokratie Europas und die dritte Wirtschaftsmacht der Welt. Freie Bürgerinnen und Bürger können morgen erwirken, dass ihre Regierung die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel verbietet, das Agrardumping stoppt, die Auslandsverschuldung der ärmsten Länder annulliert etc. Der französische Schriftsteller Georges Bernanos schreibt: »Gott hat keine anderen Hände als die unseren.« Entweder wir ändern diese kannibalische Weltordnung, oder sonst tut es niemand.


Das Interview führte Marc Engelhardt, freier Journalist in Genf, Schweiz.


Jean Ziegler, »Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der dritten Welt«, C. Bertelsmann Verlag, München, 320 Seiten, 19,99 Euro.


Der Beitrag stammt aus der Zeitschrift Welternährung, 1.Quartal 2013. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welthungerhilfe Bonn.