Moralisieren ja, handeln nein

Den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Neuordnung der Welt widmet das Weltwirtschaftsforum in Davos sein diesjähriges Programm. Die soziale Frage nach einer gerechten Gesellschaft rückt dabei auch aus Sicht der WEF-Teilnehmer in den Vordergrund. Wird das WEF zur moralischen Instanz? Zum dritten Mal in Folge listet der neunte Weltrisikobericht des Weltwirtschaftsforums die ungleiche Einkommensverteilung auf Platz eins der wahrscheinlichsten Risiken in der kommenden Dekade. Auf den Plätzen folgen mit extremen Wetterereignissen, Arbeitslosigkeit und Klimawandel Themen, die noch vor wenigen Jahren nur unter ferner liefen figurierten. Die Daten basieren auf einer Umfrage unter 700 Mitgliedern des Weltwirtschaftsforums, allesamt „Führungspersönlichkeiten und Entscheidungsträger“, wie WEF-Präsident Klaus Schwab im Vorwort des Berichts schreibt.

Ist damit ein Thema in den wirtschaftlichen Eliten angekommen, das andere seit Jahrzehnten umtreibt? Zum Beispiel die britische Entwicklungsorganisation Oxfam, die in einem gestern veröffentlichten Bericht die Ungleichheit der Welt zu beziffern weiss. Danach verfügen die laut dem Wirtschaftsmagazin „Forbes“ 85 reichsten Menschen der Welt mit 1’700 Milliarden US-Dollar über gleich viel Geld wie die arme Hälfte der Weltbevölkerung: 3,5 Milliarden Menschen. „Arbeiten für die wenigen“ heisst der bezeichnende Titel des Berichts, der auch die wachsende Unzufriedenheit in vielen Ländern dokumentiert. Umfragen in Brasilien, Indien, Südafrika, Spanien, Grossbritannien und den USA zeigen dasselbe Bild. Eine wachsende Mehrheit geht davon aus, dass die Gesetze nur noch dazu gemacht sind, um die Reichen zu begünstigen. „In zu vielen Ländern bedeutet wirtschaftliches Wachstum heute kaum mehr, als dass sich eine Mentalität des „der Gewinner nimmt sich alles“ verbreitet. Davon profitieren nur die Reichsten“, sagt Oxfam-Direktorin Winnie Byanyima. Sie ruft die WEF-Teilnehmer dazu auf, offenzulegen, wo sie ihr Geld investieren, auf Steuertricks zu verzichten und sich in ihren Ländern für Mindestlöhne und staatliche Förderung der Wohlfahrt für alle einzusetzen. Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds, redet in einem Interview in der „Financial Times“ den WEF-Teilnehmern ins Gewissen: „Politische und wirtschaftliche Führungspersönlichkeiten sollten nicht vergessen, dass in viel zu vielen Ländern die Früchte des Wachstums von viel zu wenigen Menschen geerntet werden. Das ist kein Rezept für Stabilität und Nachhaltigkeit“.

Kollektives Versagen der Eliten

„Die Welt zahlt heute den Preis für diese Unentschlossenheit und Uneinigkeit“, schreibt Klaus Schwab. Die heutigen Probleme, von den Finanzspritzen der us-amerikanischen Notenbank über die Kriege im Mittleren Osten bis zu den 75 Millionen arbeitslosen jungen Menschen weltweit seien das Resultat eines kollektiven Versagens, und in einem hätten die Globalisierungsgegner damals recht behalten: die globalen Eliten seien nicht fähig gewesen, die Folgen einer sich neu ordnenden Welt in ihrem Handeln zu bedenken. Die nächste Phase der Globalisierung müsse von Chancen und nicht von Risiken und Ungleichheit geprägt sein. Die ausbleibende Reaktion der globalen Eliten auf die Kritik der Globalisierungsgegner Anfang des Jahrhunderts erinnere daran, dass die Gespräche der Führungspersönlichkeiten am Weltwirtschaftsforum den Lauf der Welt nicht nur im Jahr 2014, sondern auch in zehn Jahren und darüber hinaus beeinflussten. Hehre Worte des WEF-Präsidenten. Und die Wirklichkeit? Ein Blick in den Weltrisikobericht ernüchtert. Dort wurde auch gefragt, welche Risiken die schlimmsten Folgen hätten. Und schon ist man wieder mitten im Alltagsgeschäft. An erster Stelle liegen die Staatsschuldenkrisen, gefolgt von Klimawandel, Wassermangel und Arbeitslosigkeit. Die eben noch als grösstes Risiko befürchtete Ungleichheit der Einkommen taucht auf den vorderen Plätzen nicht mehr auf. Das klingt nicht mehr nach allzuviel Lösungsbereitschaft für das drängendste Problem der Zeit.