Menschenrechte

Wenn Kinder nicht mehr spielen, sind sie Erwachsene

 

Kinder in Palermo: Der Weg muss von der Mafia weg. Bilder: Gesa Lüchinger. 

Salvatores Auftritt dauert diesmal nur fünf Minuten. Dann ist er um ein paar blaue Flecken reicher. Auch wenn sein Gesicht zweimal schmerzverzerrt war: Tränen sind keine geflossen. Der 13-Jährige Salvatore, den alle hier mit seinem Nachnamen Drago rufen, spielt gerne Fussball. Doch wenn er ins Tor muss und dort von einem strammen Schuss eines gegnerischen Stürmers, beispielsweise von Giuseppe Lontano mit dem Leibchen und der Wucht von Roberto Carlos schmerzhaft in die Hüfte getroffen wird, obwohl er dem Ball eigentlich ausweichen wollte, möchte er am liebsten weit weg sein. In Turin, im Stadio delle Alpi, wo sein Idol Alessandro del Piero kickt. Doch den Traum, selbst einmal in der Serie A mit den schwarz-weiss gestreiften Trikots auflaufen zu können, wagt Salvatore Drago nicht zu träumen. Träume sind Schäume. Nirgendwo sonst wissen das die Kinder besser als in Brancaccio, einem 11'000 Einwohner zählenden Stadtteil von Palermo. Hier sind 35 Prozent arbeitslos, 30 Prozent der Erwachsenen können kaum lesen oder schreiben. Hunderte Männer sind im Gefängnis. 20 Prozent der Kinder schwänzen die Schule. Sie fragen sich: „Wieso soll ich dorthin gehen? Für mich gibt es danach sowieso keine Arbeit.“

Das einzige Grün, dass sie in ihrer Umgebung sehen, ist der Monte Grifone, ein Hügel, der von weitem wie ein unrasiertes Kinn aussieht. Selbst im Frühjahr dominieren Ockerfarben: Trockenes Land, karges Land, auf dem die wenigen Orangen und Zitronenbäume wie Verheissungen aus dem Paradies wirken. Der milde Wind vermischt Vogelgezwitscher, Kindergeschrei und viel, viel Motorenlärm. Brancaccio ist Mafia-Land. Das Verbrechen hat auch Namen. Jenen der Familie Graviano etwa. Zwei Brüder sind im Gefängnis, doch nun leiten die Frauen das Geschäft. Es besteht aus Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Schutzgelderpressung. Auch dort, wo der Arm der Mafia nicht hinreicht, blüht die Kleinkriminalität. Wo es keine Aussicht auf eine anständige Ausbildung gibt, ist die Verlockung gross, sich unehrlich durchs Leben zu schlagen. So geschieht es im Block 18 an der Via Azolino Hazon. Von den Bewohnern des 14-stöckigen Hochhauses sind 60 Prozent der Männer im Gefängnis. Der Bau ist ein Destillat aller Probleme dieser Kleinstadt: Eingangstüre und Briefkästen sind geklaut und einer der beiden Lifte bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Frauen huschen mit ängstlicher Mine an einigen Männern vorbei, die vor dem Haus herumlungern. Durch das eingeschlagene und mit Stacheldraht verhauene Treppenhausfenster sieht man im Hof Vincenzo und seine Freunde spielen. Die Buben kicken, wann immer sie können. Kein Regen hält sie davon ab. Und schon gar nicht der Müll um sie herum. Büchsen sind da, um sie vor sich her zu treiben und dann mit einem gezielten Schuss durch die Luft wirbeln zu lassen. Sie habe auch einen Ball. Den passen sie einander zu, stoppen ihn mit der Brust, jonglieren einige Male und kicken ihn weiter. Der neunjährige Vincenzo presst die Lippen aufeinander, als er nach seinem Vater gefragt wird. Viel lieber möchte er Fussball spielen, auch wenn der Platz im Schatten von tristen Wohnblocks und verfallenen Häusern, inmitten von Müll, Dreck und Gestank wenig einladend ist. Was zählen schon Plastikflaschen und Waschmittelkartons, wenn die künftigen Stars Vincenzo, Paolo, Giuseppe, Filippo und all die anderen ihre Dribbelkünste zeigen; dem laschen, abgenutzten Leder herrlich gezirkelte Flanken entlocken, durch die Luft segeln und den Ball mit dem Kopf im Lattenkreuz versenken. Dann blitzt in ihren Augen Lebensfreude, jeder fordert den Ball, bestrebt mit Kabinettstücken zu brillieren. Und doch möchten die Jungs lieber woanders spielen. An einem Ort, den die Erwachsenen, ihre Eltern, nicht in eine Müllhalde verwandelt haben. Auf dem Fussballplatz des Centro Padre Nostro zum Beispiel.
"Die Kinder hören viel zu früh mit Spielen auf und sind dann kleine Erwachsene", klagt Maurizio Artale, der Leiter des Centro Padre Nostro, das gegen Angst und Resignation in Brancaccio ankämpft. Die 40 Mitarbeiter des Zentrums arbeiten in drei Stadtvierteln. Es wird vor allem von Spendern finanziert. Doch einzelne Projekte werden auch von der italienischen Regierung oder der EU unterstützt. Zu diesen gehört auch der Aufbau eines Freizeitgeländes für die Kinder von Brancaccio. Gegründet wurde das Zentrum von Padre Pino Puglisi, der den Satz prägte: „Wer zur Lösung seiner Probleme Gewalt anwendet, ist kein Mann.“ Er ermöglichte Kinder das Spielen. Dafür bezahlte er mit seinem Leben. Am 15. März 1993 wurde Padre Puglisi von der Mafia ermordet.
Die „Ehrenwerte Gesellschaft“ hat dort einen schweren Stand, wo die Bevölkerung aus der Resignation erwacht, wo Kinder zur Schule gehen und spielen, statt zu arbeiten, und wo erwachsene Männer arbeiten, statt mit Drogen zu handeln und Frauen und Kinder zu schlagen. "Die Mafia braucht das Elend. Es ist der Humus, auf dem das Verbrechen gedeiht", sagt die Sozialarbeiterin Ivana Manone. Sie beobachtet 15 Jungs beim Fussballspiel auf einem kleinen Feld inmitten des Freizeitgeländes, das wie eine Oase in Brancaccio wirkt. Der Weg zum Sand-Platz schlängelt sich zwischen Brennnesseln und Limonenbäumen durch. Hier sollen dereinst auch ein Tennisplatz, eine Bocciabahn und ein Amphitheater entstehen. Das Terrain ist das Geschenk eines Privatmannes, doch die Stadt Palermo hält ihre Zusage zur finanziellen Unterstützung des Projektes „Freizeitgelände Brancaccio“ nicht ein. Mit eigener Kraft hat das Centro wenigstens den Fussballplatz hergerichtet – die Hauptsache. Ivana Manone lacht viel, hat für jeden ein Ohr, kennt alle Kinder im Quartier und lässt sich spontan umarmen. Und wenn sie sagt, die Sizilianer hätten Fussball im Blut, fühlen sich die Kämpfer geschmeichelt. Der eine oder andere dürfte bei einem eleganten Dribbling auch ihre Bewunderung zu erhaschen versuchen. Denn Ivana Manone ist schön.
Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass das Feld nicht Schauplatz leidenschaftlicher Fussballspiele ist. Die Jungs, die sonst in einer gewalttätigen Umgebung leben, spielen fair. Viele verfügen selbst bei hohem Tempo über eine stupende Technik. Zu ihnen gehört Salvatore Drago nicht. Und deshalb verbringt er die meiste Zeit widerwillig im Tor. Trotzdem ist auch er, so oft es geht, auf dem Fussballplatz. Zu Hause lebt er in sehr armen Verhältnissen, gleich dort, wo das Zentrum Palermos aufhört und Brancaccio beginnt. Hier sind die Stati Uniti, die Vereinigten Staaten, wie die Einheimischen selbst mit Ironie sagen. Das Gebiet wird durch die Bahnübergänge der Zuglinien von Palermo nach Messina und von Palermo nach Trapani begrenzt. In den Stati Uniti übernachteten einst die Amerikaner nach ihrer Landung auf Sizilien im Zweiten Weltkrieg. Heute ist die Gegend selbst für sizilianische Begriffe heruntergekommen – der grösste denkbare Kontrast zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Salvatore Drago wohnt mit seiner Familie in einer dunklen Wohnung inmitten von Gerümpel. Unbrauchbare Gegenstände wegzuwerfen, kann sich in Brancaccio kaum jemand leisten. Alte Kühlschränke, verrostete Fahrräder, ausrangierte Wohnzimmermöbel - für alles kann in dieser Mangelgesellschaft ein Käufer gefunden werden. Davon lebt die Familie. Salvatore Dragos Vater verdient so 15 bis 20 Euro täglich.
Schon Zehnjährige müssen in Brancaccio im schlimmsten Fall mit dem Vater Drogen verkaufen, Zigaretten schmuggeln oder Schutzgeld erpressen, oder sie helfen mit, Alteisen und Karton einzusammeln. Die Mädchen arbeiten zu Hause. Kinder, die nicht spielen, sondern wie Erwachsene arbeiten, haben keine Fantasie. Auf einem Ausflug des Centro Padre Nostro durften die Kinder einmal Theater spielen. "Die Mädchen mimten erwachsene Frauen, die putzen, kochen und mit ihrem Ehemann streiten. Sie kennen nichts anderes", sagt Ivana Manone. Wenn sie einmal träumen, dann von den Damen im Fernsehen, die in kurzen Röcken und übereinander geschlagenen Beinen die Prominenz interviewen. Den Fussballstar Del Piero etwa, der auch ihnen wie ein Halbgott erscheint.
Die Welt der Kinder in dieser Kleinstadt beschränkt sich auf die langgezogene Via Brancaccio. Sie ist lärmig und stickig. Halbstarke fahren ihre Vespa-Corsos und pfeifen den Frauen hinterher. Dort, wo sich die Strasse gabelt, wacht die Statue des Schutzpatrons von Brancaccio, San Gaetano, gleichermassen unübersehbar wie erfolglos über das Schicksal dieser Menschen. An dieser Strasse wohnt auch Salvatore Drago, und hier hat sein Vater seinen kleinen Laden. Was drinnen keinen Platz mehr hat, wird kurzerhand auf dem Trottoir gelagert. Daran stört sich niemand. Die anderen tun das auch.
Es ist keine Umgebung für spielende Kinder. Umso wichtiger ist der Fussballplatz. Den 30 Buben zwischen 12 und 22, die regelmässig hierher kommen, bedeutet er eine Vergrösserung ihrer beengten Welt, ein Stück Freiheit. Sie verwalten den Schlüssel zum schweren grünen Eisentor, dass Diebe davon abhalten soll, die Tore zu klauen. Das klappt so gut, dass auch der einzige Erwachsene, Tercero Octavio, überflüssig ist. Der Mann mit dem Namen eines Bruchs arbeitet im Zentrum und ist um einen guten Eindruck bemüht. Doch den vermitteln die Kicker auch ohne ihn. So wichtig ist ihnen der Sport. Sie organisieren ihre Spiele selbst und sind für Sauberkeit auf dem Platz verantwortlich. Meist spielen sie fünf gegen fünf. Wer zuerst drei Tore geschossen hat, bleibt auf dem Platz. Die Verlierer räumen das Feld. Zu ihnen gehört meist die Mannschaft von Salvatore Drago, der sich wieder vor einem angreifenden Stürmer ängstlich ins Netz geflüchtet hat. Doch auch dies hilft ihm nichts. Der Schuss trifft ihn und zählt trotzdem als Tor, auch wenn Salvatore ihn unfreiwillig abgewehrt hat. Schliesslich steht er hinter der Linie. Der Junge bekommt drei weitere Schüsse ab, lässt aber im kurzen Abständen zwei Bälle ins Netz. Die Verteidiger versagen aufs Gröbste. So lasse sich der Kasten nicht sauber halten, ruft er seinen Mitspielern zu, die nichts anderes im Kopf haben, als schöne Tore zu erzielen, eben so wie Del Piero. Und das hat auch Salvatore vor, beim nächsten Spiel, wie er grossmaulig androht, als er mit seinen Mitspielern, die ihren Torhüter eine Memme schimpfen, das Feld verlässt. Nur zehn Minuten später setzt er seine Drohung in die Tat um. Die Hände in die Hüfte gestützt, steht Salvatore Dragon bei der nächsten Partie seiner Mannschaft mit entschlossenem Blick am Mittelkreis, auch wenn seine Mitspieler ihn bis zum Anstoss davon zu überzeugen versuchen, dass sein Platz im Tor ist. Seine Figur lässt keine schnellen Antritte und dauerläuferischen Leistungen erwarten. Trotzdem wird es gefährlich, wenn er in der Nähe des gegnerischen Tores an den Ball kommt. Die Tore bis zum 2:2 schiessen trotzdem andere.
Die Entscheidung ist unspektakulär. Salvatore Drago trifft den Ball bei einem Angriff seiner Mannschaft kurz nach dem Anspiel auf der Höhe des Elfmeterpunktes. Sein Schuss ist scharf und präzise. Via Pfosten huscht das Leder ins Tor. Keiner seiner Mitspieler jubelt, keiner gratuliert ihm. Die Partien gehen zu schnell vorbei. Da gehen die Emotionen kaum hoch. Nur ein kleiner Junge schlägt ihm anerkennend die Faust in den Magen. Aber das ist nicht unter Gewalt abzubuchen. Schliesslich ist Salvatore hinreichend geschützt.