Menschenrechte

«Wir sind da!»

Bellas Stimme gerät ins Stocken, Tränen rinnen über ihre Wangen, als sie erzählt, wie sie als 16-jährige mit ihrer dreizehnjährigen Schwester aus Florenz aufbrach, in die Schweiz, auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben. Ihre Mutter war mit den beiden Kindern aus Somalia geflohen, in ihrem eigenen Strudel hatte sie ihre Kinder so lange vernachlässigt und misshandelt, bis die jugendliche Tochter sie verliess.


Auch unter den Schülerinnen und -schülern der Kantonsschule Heerbrugg, die im Kreis mit Bella und drei anderen Flüchtlingen sitzen, fliessen die Tränen, ihre Erschütterung ist mit Händen zu greifen. Es sind nicht die letzten an diesem Tag. Im Rahmen einer Projektwoche haben sich zwanzig 16- bis 18-jährige Jugendliche für einen eintägigen Workshop entschieden, bei dem es um ein Thema geht, das, obwohl fast täglich in den Medien präsent, doch merkwürdig unfassbar bleibt: Flucht. Die Erwachsenenbildnerin Carmelita Boari verteilt Taschentücher. Ihr halbes Berufsleben hat sie Flüchtlingen und Migranten gewidmet, seit ihrer Pensionierung engagiert sie sich, um Brücken zu schlagen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Sie trägt mit ihren Workshops das Thema auch in die Schulen.
Die vier Flüchtlinge, die erzählen von ihrer Flucht, von ihrem neuen Leben in der Schweiz, von ihrer Heimat, von ihren Ängsten und Hoffnungen, kommen aus dem Iran, aus Eritrea und aus Somalia, aus Welten, die wenig gemein haben mit jenen, in der die Schülerinnen und Schüler leben. Doch auch ihre Welten sind nicht die gleichen. Das zeigt sich in der Vorstellungsrunde. Es kommt zu einer babylonischen Sprachverwirrung, als die Flüchtlinge sich in ihrer Muttersprache, die Schülerinnen und Schüler in der Sprache vorstellen, die sie zuhause sprechen. Es sind schliesslich zehn Sprachen, aus denen sich für die Unkundigen oft nur ein einziges Wort herausfiltern lässt: Heerbrugg. Ein Graben tut sich innerhalb der Schülergemeinschaft auf. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund werden den ganzen Tag unter sich bleiben, und es wird offensichtlich werden, dass sie mehr als nur eine Ahnung davon haben, was es heisst, in der Fremde zu leben, oder, wie es eine Bosniakin sagt, deren Eltern im bosnischen Bürgerkrieg in die Schweiz geflohen waren: «In der Heimat meiner Eltern bin ich die Schweizerin, hier das Mädchen aus Bosnien.»
Als der 22-jährige Youssef vom Schrecken seiner Flucht aus Eritrea erzählt, von den Menschen, die er hat sterben sehen, in der Wüste und auf dem Meer, von seinem letzten, in der Unterhose versteckten Geld, mit dem er, selber halb verhungert und verdurstet, völlig überteuerte Müsliriegel an einem Kiosk irgendwo in Lybien kaufte und sie mit seinen Begleiterinnen und Begleitern teilte, wird es ihm selbst und seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zuviel. Er, der zuvor mit einigen flotten Sprüchen die von einer scheuen Zurückhaltung der Schüler geprägte Stimmung etwas aufgelockert hat, bricht abrupt ab und berichtet von den Mühen des Lebens in der Schweiz, wo er nach drei Jahren und acht Monaten im Rekursverfahren noch immer auf seinen Asylentscheid wartet. Den Einberufungsbefehl zerriss er und floh in die Ungewissheit. Seinen Vater, der schon 15 Jahre zwangsweise Militärdienst leistete, kannte er kaum. Dessen Schicksal wollte er nicht teilen. Jetzt glauben ihm die Schweizer Behörden nicht, ihm fehlt der Marschbefehl als Beweisdokument. Seine Verzweiflung lässt er sich nicht anmerken. Am Mittagstisch, die Flüchtlinge bleiben unter sich, bricht seine Stimme, als er gefragt wird, ob es sich für ihn gelohnt habe, zu fliehen. Er antwortet mit einem Vergleich. In der Schweiz verziehe er sich ins hinterste Eck, wenn es regne, ihn Eritrea sei er immer freudestrahlend nach draussen gerannt, um sich am Geruch der dampfenden, feuchten Erde zu erfreuen.
Später, wieder im Kreis sitzend, streut er eine Bemerkung zum Rucksack mit Mobiltelefon, Laptop und Geld ein, den die meisten der Schülerinnen und Schüler mitnehmen würden, wenn sie fliehen müssten aus ihrer Heimat. Sie waren von der Gesprächsleiterin danach gefragt worden. Das habe er auch dabei gehabt, aber es sei ihm alles weggenommen worden von den Schleppern. Nur langsam weicht die Zurückhaltung und das Schweigen der Gymnasiasten der Anteilnahme, einige äussern nach der Mittagspause im Kreis ihre grosse Betroffenheit.
Es bleibt ein Graben, der sich am Nachmittag noch deutlicher zeigt, als es darum geht, in Arbeitsgruppen, denen jeweils nur Schweizer, Migranten oder Flüchtlinge angehören, die Frage zu beantworten, was sie denn stolz mache auf ihre Heimat, ihre Nation. Die Schweizerinnen und Schweizer erweisen sich als gute Patrioten, sie sind stolz auf die Demokratie, die liberale Haltung, Pünktlichkeit, Tradition, Ehrlichkeit, Toleranz, die Wasserversorgung, den öffentlichen Verkehr und die Sozialversicherung, Natur und Landschaft und das Umweltbewusstsein. Die Unterschiedlichkeit dieser Werte wird bewusst, als die Migrantinnen und Migranten auflisten, was sie stolz macht: Das Essen, die Gastfreundschaft, die Religion, der Zusammenhalt in der Familie, Traditionen und Feste und eine Offenheit gegenüber dem Anderen, Fremden. Bei den vier Flüchtlingen klingt es ganz ähnlich, es ist, wie wenn die einen mit dem Herzen sprächen und die anderen mit dem Verstand.
Hilfloses, betretenes Schweigen herrscht im Raum der Schweizerinnen und Schweizer, als es darum geht, die Vor- und Nachteile der Migration zu listen. Nur ganz langsam kommen ein paar Argumente zusammen, darunter, als Vorteil, die Multikulturalität, die billigen Arbeitskräfte und ausländische Restaurants, als Nachteil der Verlust der eigenen Identität oder die Sozialhilfe. Länger und differenzierter wird die Liste der Migrantinnen und Migranten. Auf der positiven Seite stehen Freiheit, Menschenrechte, das Sozialsystem, Sicherheit und Arbeit, auf der negativen die Trennung der Familien, der Verlust von Freunden, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die fehlende Zugehörigkeit, der Verlust der Identität. Was für die einen kaum eine Erwähnung wert ist, hat für die anderen grosse Bedeutung, im Guten wie im Schlechten. Unmittelbar wird damit auch fassbar, dass es eben nicht genug ist, wenn für die materiellen Dinge des Lebens gesorgt ist. Es geht auch darum, in der Fremde heimisch zu werden und mehr noch vom Rande in die Mitte der Gesellschaft zu finden. Dazu braucht es zuerst das Bewusstsein um die Verschiedenheit und das gegenseitige Verständnis.
Die so zurückhaltenden Kantonsschülerinnen und -schüler tauen auf, als der Tag spielerisch ausklingt, die Tränen und die grosse Ernsthaftigkeit weichen dem gemeinsamen, befreienden Lachen. Eine junge Frau tauscht die Telefonnummer mit Ibrahim, zehn der 19 Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen sich auf eine Email-Liste ein, um im Kontakt zu bleiben mit den Flüchtlingen, regelmässige Treffen sind angedacht. «Wir sind da!» hatte Bella in die Runde gerufen, und damit gemeint: Nehmt uns wahr, sprecht mit uns, interessiert euch für uns! Die Botschaft ist angekommen.