Menschenrechte

Der Schatz zerrinnt

Der „Atlas der verlorenen Sprachen“ zeigt, welchen Verlust die Menschheit erleidet, wenn die Globalisierung nicht nur Kulturen sondern auch ihre Sprachen schleift. Die Sprachensystematisierung hin zu wenigen Weltsprachen geht rasant voran.

Alexander von Humboldt war der erste bekannte Weisse, der Südamerika nicht mit Ignoranz und ausbeuterischem Ehrgeiz, sondern mit Neugier bereiste. Und dank dieser Neugier stiess er auf eine Fülle von Sprachen, die die Einheimischen pflegten. Immer wieder wurde er von fremden, gestikulierenden Menschen herausgefordert, wenn er Informationen haben wollte. Er lernte und stellte immer wieder innere Verwandtschaften zwischen den Sprachen fest. Unermüdlich versorgte er seinen Bruder Wilhelm in Berlin mit Aufzeichnungen, der mit seiner Begeisterung für Sprachen und den damit verbunden „Weltansichten“ Massstäbe setzte. Es gibt auf der Welt mehr als nur Englisch, Spanisch Französisch, Deutsch oder Mandarin. Es gibt mehr als 6‘000 Sprachen und fast monatlich stirbt eine Sprache aus, weil der letzte sie noch aktiv Sprechende oder die letzte Sprechende verstorben ist. Wenn Linguisten noch die Wörter übersetzen und die grammatikalische Struktur erforschen und festhalten konnten, hat wenigstens die Nachwelt etwas davon. Rund die Hälfte aller Sprachen ist vom Niedergang bedroht. Mit dem „Atlas der verlorenen Sprachen“ hat der Duden Verlag nun mit einem von Hanna Zeckau gestalteten Buch diesem stillen Drama ein Denkmal gesetzt. Denn der Verlust der Sprachen ist auch das Ergebnis von Eroberungen, Kolonialismus, Sklaverei und einer Globalisierung, die sich bis in die entlegensten Gebiete durchsetzt. Auch dort pflanzen Radiosendungen und Fernsehfilme Träume eines leichteren und besseren Leben in die Köpfe und diese setzten die Füsse in Gang, die die Menschen wegtragen in irgendeine ferne Stadt und einer grösseren Sprache zu.


Die Sprache, in der wir uns alle verständigten

Die Durchsetzung grosser Sprachen hat auch viel mit Dominanz zu tun und mit jeder Sprache, die stirbt, wird auch uns, den Reichen ein Spiegel vorbehalten. Wobei auch bei uns Sprachen sterben. Im Alpenraum sind Dialekte des Rätoromanischen oder Zimbrisch, das im Trentino gesprochen wird, nur zwei Beispiele für wahrscheinlich aussterbende Sprachen. Die Autorin Rita Mielke widmet sich aber den ganz ausgestorbenen Sprachen. Sie musste eine Auswahl aus einer bedauerlich grossen Fülle treffen. In Europa listet sie neun Beispiele auf. Eine interessante Sprache ist die noch bis ins 19. Jahrhundert in Italien, der jugoslawischen Küste entlang bis nach Griechenland und der Türkei, sowie ganz Nordafrika verbreiteten Lingua Franca, die entlang der Küste und in Hafenstädten gesprochen wurde. Die Sprache entwickelte sich nach dem Ende des Mittelalters und sie bereitet Sprachforschern noch heute Kopfzerbrechen. Sie war immer nur eine Zweitsprache und wegen ihres riesigen Verbreitungsgebietes in Varianten zerstückelt. Andrerseits ist ein lexikalischer Grundbestand nachgewiesen. Es handelte sich um ein auf der Basis von Italienisch und seinen Dialekten entwickelten Sprachgemisch mit arabischen, persischen und slawischen Elementen. Dass die Basis italienisch bildete, war den aktiven Stadtstaaten Genau und Venedig geschuldet. Die Lingau Franca überschritt Nationalgrenzen und war die aus dem Wunsch zur Verständigung geborene Sprache einer multilingualen Gesellschaft. Im westlichen Teil des Mittelmeeres entwickelte sich eine ähnliche Situation mit Spanisch als Grundlage. Miguel Cervantes liess seinen Don Quijote das Besondere der Lingua Franca mit folgenden Worten beschreiben: „die erste Person, die mir begegnete, war ihr Vater, der mich in der Sprache fragte, die in der ganzen Berberei, ja bis nach Konstantinopel zwischen Sklaven und Mauren gesprochen wird und die weder Maurisch noch Kastilisch noch sonst eine Nationalsprache ist, sondern eine Mischung aus allen Sprachen, in der wir uns alle verständigten.“ Es war auch die Sprache in der sich im Norden Afrikas die muslimischen Herren mit den meist geraubten christlichen Sklavinnen und Sklaven verständigten. Hier hielt sich die Lingua Franca auch am Längsten, nämlich bis ins späte 19. Jahrhundert. Das Ende der Sprache war aber noch nicht das Ende des Begriffes. Der übersiedelte in den anglikanischen Sprachraum und steht heute meist für Englisch als Verkehrssprache, die die Kommunikation zwischen Völkern anderer Sprachen bezeichnet. Richtig heisst es heute Linguae francae. Denn auch Französisch, Spanisch, Arabisch oder Mandarin Chinesisch erfüllen diese Kriterien.


Die Welt wird ein Stück ärmer


Solresol ist ein Beispiel für eine Sprache, die nie flügge geworden ist. Solresol ist eine Kunstsprache, die der Franzose François Sudre aus der Überlegung heraus entwickelt hat, eine möglichst einfache, aber von allen andere Sprachen losgelöste und demnach neutrale und unabhängige Sprache zu kreieren, die keine Missgunst aufkommen lassen würde. Er schuf 2268 meist zwei bis viersilbige Wörter, die für alle „wichtigen internationalen Beziehungen“ ausreichten. Für das gebildete europäische Bürgertum des 18.und 19. Jahrhunderts wurde die Solserol populär. Die Silben wurden sogar mit den Notensilben verbunden. Im 20. Jahrhundert war es vorbei mit Solresol, doch als die Ausserirdischen im Film E.T. den Menschen immer wieder eine kurze „Melodie“ vorspielten, hätten Kenner darin ein einfaches Hallo in Solresol erkennen können.


Es gehen Kulturen und ihre Leistungen verloren


Ein besonders spannendes Beispiel einer verlorenen Sprache ist Chachapoya, die im Norden Perus gesprochen wurde. Chachapoya heisst in der Inkasprache Quechua „Wolkenleute“, eine Anspielung an die Nebenwaldregion, in der die Chachapoyas leben. Sprachforscher haben inzwischen herausgefunden, dass es zwischen Chachapoya und Quechua, der dominanten Sprache der Region, erhebliche Unterschiede gibt. Nur noch wenige Leute sprechen ein wohl kaum mehr korrektes Chachapoya. Aber spannend wäre eine linguistische Analyse, denn die Chachapoya werden auch Inka-Gringos genannt. Es gibt dort nicht selten blonde Menschen mit eher europäischen Gesichtszügen. Und diese Menschen waren schon vor den spanischen Eroberern da, denn diese waren ebenso verblüfft von dem, was sie sahen. Waren schon vor den Spaniern Europäer im pazifischen Nebelwald? DNA-Analysen beweisen jedenfalls, dass die Chachapoya genetische Elemente besitzen, die an der Westküste Europas verbreitet sind. Es wäre interessant herauszufinden, ob sich auch europäische Sprachelemente finden lassen. Die Weltreise der Sprachen, auf die Rita Mielke und Hanna Zeckau ihre Leserinnen und Leser mitnehmen, ist aufschlussreich und stimmt nachdenklich. Sprachen entstehen und vergehen, aber mit ihnen gehen auch Kulturen und ihre Leistungen verloren und die Welt wird ein Stück ärmer.