Menschenrechte

«Ich sehe mich als Mensch auf diesem Planeten»

 «Flüchtlinge – Fremde unter uns». Schon bevor ich die Liste wählbarer Projekte unserer Schule vollständig durchgelesen hatte, war ich mir ziemlich sicher in meiner Wahl dieses Workshops an der Kantonsschule Heerbrugg. Durch die Medien steht man zwar ständig irgendwie mit der Flüchtlingsthematik in Kontakt, sie bleibt allerdings ziemlich abstrakt und gewissermassen unnahbar. Die wenigsten, die über Flucht und Flüchtlinge sprechen, standen jemals persönlich in Kontakt mit einer geflüchteten Person – auch ich nicht, weshalb ich dieses Programm als grosse Chance auffasste.

Ähnlich empfand dies vermutlich auch der Rest der Gruppe, der sich für Carmelitas Workshop angemeldet hatte. Wir waren circa 20 Personen, die gemeinsam in einem Sitzkreis sassen. Ich kannte aus dieser Gruppe abgesehen von drei Teilnehmerinnen kaum jemanden – dennoch war mir seit Beginn klar, wer «die Fremden» waren. Dies bei den zwei Geflüchteten aus dem Iran vor allem durch das Alter, bei einem Eritreer durch seine dunkle Hautfarbe. Die drei sassen nebeneinander, und neben ihnen die Leiterin des Workshops: Carmelita. Die von ihr erlaubte, lockere Ansprache per «du», dies war bereits ein erster Schritt, um die Distanz zu verringern.
Eingeleitet wurde der Tag nachdem eines seiner grundlegenden Ziele, nämlich der Abbau von Vorurteilen, bekannt gegeben wurde durch eine Vorstellungsrunde. Wir sollten uns dabei in der eigenen Muttersprache vorstellen, wobei schnell bewusst wurde, wie stark Migration auch in unserer Kanti präsent ist. Während meine Vorstellung als Deutsche nicht schwer zu verstehen war, blickte der Grossteil der Gruppe nach einigen fremdsprachigen Vorstellungen beispielsweise in albanisch oder russisch ziemlich ratlos drein. Wir sollten unsere Nationalitäten gegenseitig erraten – auch die der Flüchtlinge. Eritrea wurde schnell erraten, die zwei anderen Männer blieben allerdings vorerst ein Rätsel. Syrien wurde angesichts der dortigen Situation genannt und ich schlug Palästina vor, es waren jedoch beide aus dem Iran. Sie verrieten uns, dass ihre Sprache persisch sei, was für mich bereits eine kleine Lektion war, die ich an diesem Tag gelernt habe (ich hatte persisch mit dem Persischen Grossreich assoziiert und dementsprechend geglaubt, dass es diese Sprache gar nicht mehr gäbe…). Mir wurde im Rahmen dieses Workshops noch einige Male meine Unwissenheit bewusst.
Als nächstes stand eine Übung auf dem Programm, die mithilfe von ein wenig Bewegung Gemeinsamkeiten aufzeigen sollte. Grenzen abbauen – das Stichwort blieb aktuell. Carmelita stellte verschiedene Fragen, bei denen diejenigen, welche diese für sich mit einem «Ja» beantworten konnten, aufstehen sollten. Die Fragen waren sehr unterschiedlich und reichten zum Beispiel von der Frage, ob man Gelegenheitsraucher*in sei, zu der, ob die eigenen Eltern einer anderen Nationalität angehörten. Überraschenderweise wurde dabei deutlich, dass die «Urschweizer*innen», also die ohne jeglichen Migrationshintergrund, mit circa drei oder vier Personen in der absoluten Minderheit waren. Sich dessen bewusst zu sein, ist meiner Meinung nach wichtig, wenn man über Ausländer*innen debattiert.
Bevor die drei Flüchtlinge von ihren persönlichen Fluchthintergründen erzählten, führten wir eine weitere Übung durch. Wir sollten uns vorstellen, dass wir aus der Schweiz fliehen müssten. Als Anlass erzählte Carmelita uns die Geschichte der Libyen-Affäre um 2008, in welcher der ehemalige libysche Diktator Gaddafi davon sprach, die Schweiz zerschlagen zu wollen.  Gäbe es also einen Krieg in der Schweiz, wohin würden wir fliehen und was würden wir mitnehmen? Die meisten zählten Länder wie Deutschland und Österreich wegen der Nähe und dort ansässigen Verwandten auf. Mehr Distanz zur Schweiz wäre in einem solchen Kriegsfall aber sicher nicht verkehrt, also wurden auch Länder wie Schweden genannt. (Davon, dass sich ein solches Ereignis möglicherweise leicht zum dritten Weltkrieg hochschaukeln könnte und man dank Atomwaffen sowieso nirgends sicher wäre, mal abgesehen.) Was nun zu bedenken gibt, ist der Umgang mit Flüchtlingen in diesen genannten Ländern. Sie alle wenden sich immer mehr gegen Flüchtlinge und gegen Ausländer*innen. Mich erinnert das an ein Plakat des Künstlers Klaus Staek mit der Aufschrift: «Stell Dir vor Du mußt flüchten und siehst überall AUSLÄNDER RAUS!»
Nach einer kurzen Pause begann der Teil des Workshops, der wohl der spannendste Teil war, der einem allerdings auch am schwersten auf dem Magen lag. Der Reihe nach erzählten die Flüchtlinge von ihren Fluchtgeschichten, indem sie Fragen, die Carmelita stellte, beantworteten. So erfuhren wir zuerst ein wenig darüber, wie das Leben in ihren Ländern war und weshalb sie überhaupt geflüchtet sind, bevor sie die konkrete Flucht schilderten und ein wenig auf ihr jetziges Leben in der Schweiz eingingen. Auch wir durften Fragen an sie stellen, Carmelita betonte jedoch verständlicherweise, dass wir uns bei heiklen Themen zurückhalten sollten. Manche Erlebnisse konnten auch Jahre nach der Flucht noch nicht verarbeitet werden oder sollten nicht wieder hervorgeholt werden.
Alle drei hatten ganz verschiedene Geschichten - auch die beiden aus dem Iran unterschieden sich voneinander. Es wird immer von «Flüchtlingen» gesprochen, wodurch eigentlich alle in eine Schublade gesteckt werden, zum Beispiel dort aber zeigte sich die pure Individualität dieser Flüchtlinge. Jede*r in diesem Kollektiv hat eine ganz eigene, persönliche Geschichte.
Youssefs Flucht aus Eritrea war besonders herzergreifend, da die Bedrohung des eigenen Lebens ständig präsent war. Er erzählte zum Beispiel von der Überquerung der Sahara in einem mit durstigen Menschen vollgepackten Lastwagen, welche nicht von allen Mitreisenden lebendig überstanden wurde. Wir alle kennen die Bilder von Booten voller Flüchtlinge, die das Mittelmeer überkreuzen. Wir wissen vom Leid dieser Menschen. Aber diese Geschichten persönlich von einem Menschen, der vor dir sitzt, zu hören, hinterlässt nochmals ein ganz anderes Gefühl. Man kann nicht einfach die Zeitung weglegen, man kann nicht mehr wegsehen.
Nach diesen fast eineinhalb Stunden überwiegend schweigenden Zuhörens wurden wir in die Mittagspause entlassen. Carmelita lud uns dabei ein, uns zu ihr und den Flüchtlingen an einen Tisch zu setzen. Ein paar aus der Gruppe, mich eingeschlossen, taten dies und unterhielten sich zusätzlich mit «den Fremden». Ich redete vor allem mit Youssef, der mich wegen meiner Familiengeschichte angesprochen hatte. Bei der «Aufsteh-Absitz-Übung» am Morgen bin ich bei der Frage, ob wir Grosseltern aus einem anderen Land haben, aufgestanden und antwortete auf das «Woher?» damit, dass mein Opa aus dem Sudan kommt. Das hatte sein Interesse geweckt und er befragte mich zu meinem Grossvater. Ich war ein wenig beschämt darüber, dass ich kaum Auskunft zu ihm geben konnte. Ich vermute zwar, dass er ebenfalls ein Flüchtling war, habe aber nie mit ihm über so etwas geredet, immerhin hatte ich ihn circa vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen. Beschämt war ich vor allem deshalb, da Youssef seine Familie wiedersehen möchte, aber nicht kann – von meinem Grossvater hingegen weiss ich immerhin, dass er in Friedrichshafen lebt und kann den Kontakt über meine Tante eigentlich wiederaufbauen. Das war definitiv ein Wachrüttler, den ich aus diesem Workshop mitgenommen habe.
Den ganzen Nachmittag über beschäftigten wir uns mit verschiedenen Gruppenarbeiten. Die erste davon machte mir ziemlich Mühe – es ging um die eigene Kultur und darum herauszufinden, auf was wir an dieser stolz sind. Die verschiedenen Ethnizitäten bildeten jeweils Kleingruppen - also beispielsweise war eine Gruppe russisch, eine schweizerisch, eine albanisch, usw. - und hatten den Auftrag, Dinge aufzuschreiben, die wir an unserer eigenen Kultur schätzen und auf die wir stolz sind. Im Sitzkreis wurden diese präsentiert und die Bandbreite reichte von Werten wie Freiheit und Toleranz, Traditionen wie beispielsweise das Weihnachtsfest, das Familienleben, das Essen, bis über Sportler des eigenen Landes.
Für mich persönlich war es jedoch ein kleiner Krampf, irgendetwas aufzuschreiben, allein schon, da ich mich mit keinem Land identifiziere. Mein Pass sagt, ich sei Deutsche, aber ich sehe mich wieder als Deutsche noch als Schweizerin und habe auch kein Bedürfnis dazu, befinde mich also nicht in einer Identifikationskrise. Ich sehe mich als Mensch auf diesem Planeten und das reicht mir. Patriotismus, Stolz auf das eigene Land oder die Kultur zu sein – ich glaube, ich befinde mich damit in der Minderheit, aber das finde ich überaus merkwürdig, ich hätte immerhin auch in irgendein anderes Land geboren werden können. Vielleicht habe ich mich auch einfach an dem Begriff aufgehängt («Dankbarkeit» wäre wohl leichter gewesen), aber ich denke, wir bräuchten im Allgemeinen weniger Stolz und ein bisschen mehr Demut.
In der darauffolgenden Gruppenarbeit ging es darum, herauszuschälen, ob Migration ein Gewinn oder ein Verlust ist. Dabei teilten wir uns in zwei grössere Gruppen auf: «Schweizer*innen» (es waren nicht alle Mitglieder Schweizer*innen, wir sollten uns einfach in die Perspektive versetzen) und «Migranten». Beim Zusammentragen und Vergleichen der von den Gruppen aufgestellten Listen fiel auf, dass es bei beiden Seiten eigentlich mehr positive als negative Aspekte gibt – zudem waren einige positive Aspekte wie «Menschenrechte» bei den Migranten sehr schwerwiegend. Wenn man die Angst und den daraus folgenden Hass gegenüber dem Fremden beseitigen könnte, wären zudem welche der markantesten negativen Punkte beider Seiten wie «Verlust der eigenen Identität» oder «Rassismus» beschwichtigt. Somit entschieden wir, dass Migration ein Gewinn ist – und ich denke, wenn es das nicht ist, sind wir in den meisten Fällen selbst dafür verantwortlich.
Nach einer kurzen Pause zeigte uns Carmelita zur Schliessung des Workshops ein Spiel. Wieder bildeten wir kleine Grüppchen, wobei die Gruppe der drei Flüchtlinge auseinandergerupft und zu uns aufgeteilt wurde, und bekamen jeweils eine Münze. Wir spielten ein eigentlich unglaublich simples Spiel mit ihr, was aber bei uns allen wieder das innere Kind hervorbrachte. Carmelita merkte an, wie unglaublich es sei, nur mit einer Münze – die auch ein Stein hätte sein können, es ging also nicht ums Geld – so viel Lachen schaffen zu können.
Ich bin dafür, dass Workshops dieser Art stark ausgeweitet werden oder gar zum Pflichtprogramm für jeden Menschen gemacht werden sollte – für weniger ignorante Hasstiraden und ein bisschen mehr Frieden.

Jamie Moser


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